Autor: Dr. des. Daniela Stöppel Jirka Pfahl >SNU< Lubok Verlag, Leipzig Hrsg. Christoph Ruckhäberle, Toni Schönbuchner Reihe 24copies ISBN 978-3941601451 „Degré Xerox“ oder „Der studierte Medienkünstler Jirka Pfahl aus Sachsen leistet Beistand“. Überlegungen zu den Zusammenhängen zwischen Medienkunst, conceptual art und Gesellschaft 1) „Degré Xerox“ Als Ende der 1980er Jahre Jean Baudrillard den Terminus „Degré Xerox“ in die kunsttheoretische Diskussion einer sich auf dem Zenit befindenden Postmoderne einführte, bediente er sich – bester französischer Tradition folgend – eines Sprachspiels: „Degré Xerox“ sprich „Degré Zero“ ist „Nullstufe“ ist „Xerox-Kopie-Kopieren“ ist „Nullstufe als Kopie“ ist „Kopie als Nullstufe“ usw. Über die phonetische Doppeldeutigkeit des Markennamens Xerox transportierte Baudrillard die programmatische Forderung nach einer Annullierung des klassischen Kunstbegriffes, welcher dem Werk als Original, dem Künstler als genialischem Schöpfer sowie dem Museum als Kunsttempel huldigte, und proklamierte zugleich das Kopiergerät als Alternative zu individueller „écriture“. Mechanisierung und Mediatisierung stecken ebenso in „Degré Xerox“ wie der implizite Aufruf zu Gebrauch und Aneignung. „Degré Xerox“ kann damit als Schlüsselbegriff verschiedener institutionskritischer Strömungen verstanden werden, die Kunstwerk, Autor und Ausstellung nicht mehr als Autoritäten anerkannten und dementsprechend versuchten, das Original auszuschalten, die klassischen Institutionen zu unterminieren und den Kunstmarkt zu irritieren. „Degré Xerox“ meinte also nicht nur ein Gerät und das damit verbundene Vervielfältigungsverfahren, sondern demonstrierte eine bestimmte Haltung bzw. Anti-Haltung gegenüber einem klassischen Kunstverständnis. Kopieren bedeutete Ende der Achtziger Jahre vor allem eins: Rebellion, Bruch und Aufstand. (Bezeichnenderweise ist die Kopierästhetik bis heute eine Ästhetik der Linken und des Punk geblieben, wo sie sich – allen technischen Neuerungen zum Trotz – seit 30 Jahren konserviert hat.) Die natürlichen Habitate des Kopierers sind Masse und Untergrund gleichermaßen. Xerox oder die Schwarz/Weiß-Kopie steht pars pro toto für ein allgemeines Aufbegehren gegen das System Kunst und ist wie auch der Begriff des „Readymade“ engstens mit der Forderung nach einer entauratisierten Bildproduktion verbunden. Im Begriff des „Fake“ schließlich kulminierte das Prinzip „Xerox“ in einem demonstrativen So-tun-als-ob. 2) „C’est la vie“, Konzeptkunst! Institutionskritik an sich – und damit verbunden auch reproduzierende Verfahren wie das Kopieren – sind dabei unauflösbar mit den zentralen Ideen der historischen Avantgardebewegungen verbunden, deren erklärtes Ziel die Selbstauflösung der Institution Kunst war. Deren restlose Abschaffung forderten besonders Suprematisten, Konstruktivisten und Neoplastizisten. Indem sie jedoch den Begriff „Kunst“ lediglich durch „Gestaltung“ ersetzten, endete die große Utopie von der Einheit von Kunst und Leben in ihrem Gegenteil: in der völligen Verkunstung des Lebens, im lebensfeindlichen Fanal des Totaldesigns. Parallel und alternativ dazu entstanden im Umfeld von Dada und Surrealismus Techniken und Verfahren, die stärker auf eine Relativierung, mitunter auch Karikierung des klassischen Kunstbegriffes abzielten als auf dessen völlige Abschaffung oder dessen (Pseudo-) Substituierung durch „Gestaltung“ bzw. Design. Diesen Ansätzen fehlte die Tendenz zum Totalen genauso wie die generalisierende Außenperspektive. Stattdessen betrieben Künstler wie Schwitters oder Duchamp konsequent Kritik von innen heraus. Hier liegen sowohl die Anfänge der Institutionskritik im heutigen Sinne als auch der eigentlichen Konzeptkunst, wie sie dann später als eigenständige Strömung die Sechziger und Siebziger Jahre dominiert. Diese gemeinsame Wurzel ist insofern wichtig, als die Konzeptkunst quasi als Institutionskritik avant la lettre explizite Kunstwerk-Kritik betreibt, indem sie den klassischen Werkbegriff sowie die klassischen Gattungen verwirft. „Konzeptkunst“ bleibt jedoch eines der missverständlichsten Labels überhaupt. Heute ist man dazu übergegangen, unter Konzeptkunst durchaus verschiedene Ansätze zu subsumieren, die allein gemeinsam zu haben scheinen, dass die Idee bzw. eben das Konzept über das materielle Objekt dominiert, was die Materialisierung nebensächlich oder teils sogar ganz überflüssig macht. In einem solchen entmaterialisierten Konzeptualismus könnte man die alte Avantgarde-Forderung nach einer Selbstauflösung der Kunst im Leben durchaus erfüllt sehen, letztlich bleibt aber auch die Konzeptkunst auf Medien angewiesen, über die sie sich vermittelt. Denn selbst das rein Zerebrale hat eine sinnliche Dimension. Mit einem seiner Pseudonyme, Rrose Selavy, scheint auch Duchamp auf diesen Hiatus zwischen Leben und Kunst anzuspielen. Es bleibt festzuhalten: Die Institutionskritik der Achtziger, also auch Baudrillards „Degré Xerox“, baut sowohl auf konzeptualistischen als auch auf Kunstwerk-kritischen Ansätzen auf, deren Wurzeln in den historischen Avantgarden liegen. Auch Kopie und Readymade waren als Verfahren bereits in den Zehner Jahren entwickelt. 3) Medienkunst Der Kopierer, um erneut auf dieses Leitsymbol der Institutionskritik der Achtziger Jahre zurückzukommen, markiert aber auch den Anfang von etwas, das dann in den Neunzigern als „Medienkunst“ in der akademischen Künstlerausbildung institutionalisiert wurde. Und zwar nicht unbedingt deshalb, weil das binäre Schwarz-Weiß der Toner-Kopie auf archetypische Weise so etwas wie die Computerkunst antizipiert hätte – eine Qualität, die mit der Einführung von Digitalkopierern und der immer feineren Wiedergabe von Grauwerten sowieso zusehends verschwindet –, sondern eben weil durch die Erfindung des Kopierers die einfache, schnelle, massenweise Reproduzierbarkeit und damit eine Vorstellung von „Kunst als Verfahren“ – also das, was Theoretiker wie Walter Benjamin oder Viktor Schklowksi schon Jahrzehnte vorher kunsttheoretisch fundiert hatten – nahezu idealtypische Wirklichkeit wurde: nämlich Bildherstellung als Vervielfältigung auf Knopfdruck, für die kein umfassendes drucktechnisches, fotomechanisches oder anderweitig handwerkliches Knowhow mehr erforderlich war. Denn das ist ja das eigentlich Revolutionäre am Kopierer: Die einfache Handhabung und der Umstand, dass das Kopiergerät in sich autonom ist, also kein Sekundärgerät braucht, wie z.B. ein Drucker. In den Neunzigern war der Kopierer jedoch erstmal passé, stattdessen gab es „neue“ Medien. Die enge Verquickung von Medienkunst mit „Neuen Medien“ und damit eine Überbetonung des Technologischen, die zu einem nicht unwesentlichen Teil politischen Gründen geschuldet waren und bis heute nachwirken, haben die Sicht auf das eigentliche Potenzial der Medienkunst als institutionskritischer Metakunst par excellence lange verstellt. Dennoch hat in der Medienkunst das institutionskritische Erbe, für das der Kopierer sinnbildartig stehen kann, glücklicherweise irgendwie überlebt, also die Vorstellung von Kunst als einer Kritik an der Kunst und ihren Funktionsweisen. „Medienkunst“ bleibt genetisch eng mit institutionskritischen Ansätzen, mit appropriierenden Techniken und mit einem allgemeinen Konzeptualismus verknüpft, ist also in besonderer Weise eine Kunst, die über Kunst reflektiert. Medienkunst markiert damit also auch dasjenige akademische Feld, in dem eine Metaperspektive über Bilder, über Kunst, über Verfahren, über institutionelle Praktiken traditionell am stärksten eingenommen wurde und immer noch wird. Auch weil „Medien“ ohne Ort, nicht zu lokalisieren oder gattungsmäßig festzuzurren sind, sondern vor allem als Praktiken und Wahrnehmungskonventionen existieren. 4) „Der studierte Medienkünstler JP aus Sachsen leistet Beistand“1 1 Zitat aus einem Radio-Feature über JPs Ausstellung „Salsa“, Juni 2010, KVD-Galerie Dachau, Bayern5 Radio vom 14. Juni 2010 Aber wie kann es nun zu der journalistischen Feststellung bzw. besser: Unterstellung kommen, JP könne in seiner professionellen Funktion als „studierter Medienkünstler“ Beistand leisten bei dem, was er sich in seiner Ausstellung SALSA in der Dachauer Künstlervereinigung selbst als Thema „auferlegt“ hat, nämlich bei der im weitesten Sinne „Auseinandersetzung“ mit der deutschen NS-Vergangenheit? Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass er das kann bzw. man ihm – wie vielen anderen Künstlern auch – unterstellt, dass er es kann und auch tut, ist folgendes: Dass Kunst explizit politisch ist und politische Inhalte entsprechend händeln kann und auch soll, wird seit ihrer grundsätzlichen und expliziten Politisierung in den Neunzigern längst nicht mehr argwöhnisch als Grenz- und Kompetenzüberschreitung der Kunst verstanden, sondern vielmehr als selbstverständlich vorausgesetzt. Der „professionelle“ Umgang mit politischen Inhalten wird regelmäßig eingefordert, wenn man z.B. Künstlern die Gestaltung von öffentlichen Denkmälern etc. überantwortet. Gerade im Bereich der Kunst im öffentlichen Raum zählen visuelle Aufbereitung politischer Themen, alle Formen von Erinnerungskultur und Memorierung deutscher Geschichte zu den Kernaufgaben, die man an Künstler/innen delegiert. – Das ist also das eine: Die Erwartung und deren allgemeine Entsprechung. Also die Erwartung, dass Kunst irgendwie Geschichte „aufarbeitet“ oder „diskursiv macht“ usw. und die Entsprechung, dass Künstler/innen das auch wirklich tun. Das andere ist – und hier kommen wir nun endlich langsam zum Kern der Sache – die Tatsache, dass JP – eben vielleicht weil er von der Medienkunst herkommt und also auf die eben beschriebene, an die Kunst delegierte politische Aufgabe eine Art Metasperspektive einnimmt – diese Erwartungshaltung ganz bewusst unterläuft. Um diese Herangehensweise an einem Beispiel zu demonstrieren: SALSA, Titel der besagten Ausstellung, enthält zweimal die Buchstabenfolge SA, ist also irgendeine – reichlich bescheuerte – Neonazi-Codierung, die JP irgendwo zufällig aufgeschnappt hat. Das beschreibt seine Methode eigentlich ganz gut: Zufällig Dinge aufschnappen (das setzt eine Betrachtung von sozialen Ereignissen wie von Readymades voraus), um diese dann – in bester (französischer) institutionskritischer, konzeptualistischer oder wie auch immer Tradition – in ein Sprach-Spiel oder in visuelle Kipp- und Vexierbilder (z.B. ein Ziegelsteinverband, der in Fahnen umschlägt) zu transformieren. Gerade Sprachspiel und Vexierbild sind probate Mittel, um Begriffe oder visuelle Festschreibungen als Konstruktionen deutlich werden und ihre Oberfläche einbrechen zu lassen, diese dabei aber gleichzeitig als Oberfläche zu erhalten. Die Oberfläche – die als Realität getarnte Fiktion eines So-ist-es – bleibt Ansatz- und Ausgangspunkt, denn: Auch hinter Salsa lauert der Tod. Aber trotzdem ist es wohl genau das, was in diesem Zusammenhang so irritiert: Dieses doch sehr demonstrative Operieren an der Oberfläche. Dieses Slacker-Mäßige, das Lakonische im Vortrag mag eben irgendwie nicht so recht zu dieser ganzen NS-Thematik passen. Aber es wäre vorschnell, diese betonte Lässigkeit mit Nihilismus, Sarkasmus, Ironie oder irgendetwas anderem Bösartigen gleichzusetzen. Sondern diese Haltung hat eben doch auch etwas damit zu tun, das JP mit einer Art innerkünstlerischen Metaperspektive an die Sache rangeht, die vermittelt über das, was da heute Medienkunst heißt, irgendwie aus der Institutionskritik der Achtziger und dem Konzeptualismus der Sechziger kommt, und noch weiter zurückreicht bis hin zu Duchamp und Schwitters. Und dieses selbstkritische Erbe enthält eine große Skepsis gegenüber dem, was Kunst leisten kann und soll. Und es enthält die Tendenz zum völlig Un-Autoritären (statt des Anti-Autoritären). Das heißt unter anderem: Es geht eher um Style statt Stil. Also um Codes, die sich wandeln, und nicht um eine irgendwie geartete ontologische Wahrheit. Denn viel mehr als Oberfläche steht uns sowieso nicht zur Verfügung. Daher das ausgeprägte Interesse an Codes und Inhalten in allen institutionskritischen Strömungen. Was aber nicht heißt, dass der Inhalt zwangsläufig über die Form dominieren muss. Inhaltismus ist auch nicht mit Anti- Formalismus gleichzusetzen, denn „Alles ist Form“ – hinter diese Feststellung Balzacs können wir nicht mehr zurück, wir können ihr nur ihre Dogmatik nehmen. Und man könnte ergänzen: Alles ist Inhalt. Aber: Formalismen sind nur erträglich, wenn sie möglichst lapidar sind. Wenn also ein paar gefundene Holzstücke auf der weißen Wand zwar aussehen wie Minimal Art, es aber eben nicht sind, sondern gefundene Holzstücke bleiben. Wenn man also als Künstler von der Medienkunst, sprich Institutionskritik, sprich vom Kopieren, sprich irgendwie auch von der Konzeptkunst und von Duchamp und so weiter herkommt, dann hat man all das immer im Hinterkopf, im Gepäck gleichermaßen, aber man lässt es eben nicht raushängen. Es wäre doch naiv zu glauben, da käme – zumindest aus didaktischer Perspektive – irgendwas bei rum, wenn man Besucher ihre Gefühle über Dachau mit farbigen Punkte in eine Karte eintragen lässt. Und das ist JP durchaus klar. Aber eben auch, dass uns trotzdem kaum etwas anderes übrig bleibt. Weiter muss man wissen, dass ein wie auch immer gearteter institutionskritischer Ansatz voraussetzt, dass die Parameter und der Diskurs über das System Kunst natürlich genau bekannt sind. Dies schließt mit ein, dass man das Kunst-System nicht vollkommen ablehnt, sondern sich innerhalb seiner Grenzen kritisch verhält, und Kunst eben einfach als eine von vielen – kontingenten – Erfahrungen sieht. Konkret heißt das wiederum, dass JP beispielsweise klassische Autorschaft meidet oder an andere delegiert. Dies tut er nicht ohne ein großes Gefallen am Epigonentum und am Trittbrettfahrer-Dasein. Lieber Samplen, Hommagieren, Collationieren, Posieren, Kopieren, usw. Dazu passt, dass seine Arbeiten für einen „Medienkünstler“, im klassischen technologieorientierten Verständnis, technisch eher unterinvestiert, fast retro erscheinen. Linolschnitt war schließlich in den Zwanzigern, Schwarz/Weiß-Kopien, wie dargelegt, in den Achtzigern. Soviel zu den Missverständnissen, die Labels wie „Medienkunst“ oder „Konzeptkünstler“ provozieren. Medienkunst heißt ja nicht Technologie und Konzept heißt ja nicht kopflastige Verklausulierung. Vielmehr muss man sich in Erinnerung rufen, dass Medienkunst, und das ist das, was JP ja faktisch in Leipzig studiert hat, genetisch eben mehr mit dem Kopierer zu tun hat, als vielleicht – jetzt mal platt gesagt – mit 3-D-Simulationen, dass also Medienkunst zumindest von seiner Herkunft her ein kritisches Verhältnis zu einem bestimmten tradierten Kunstbegriff voraussetzt. Denn, auch das wurde dargelegt, Medienkunst bleibt – auch wenn man sie mitunter gern als rein technologische und damit weltanschaulich neutrale Kunstpraxis gehabt hätte – zumindest implizit immer politisch. Das explizit Politische meidet sie aber. „Beistand leisten“ kann also wohl nur heißen: Es zurückwerfen – also im wörtlichen Sinn „re-flektieren“ – an den oder das, wo es herkommt. Und das wiederum hat mit einer ganz bestimmten Vorstellung von dem zu tun, was Kunst denn nun leisten kann und soll, und was eben gerade nicht. Dies also in Kürze zum Zusammenhang zwischen dem Degré Xerox, der Institutionskritik, der Konzeptkunst, Medienkunst, politischer Kunst und den Arbeiten von JP.